Leseprobe

Die Todeszüge in die Vernichtungslager

Die Geschichte Odilo Globocniks ist die Geschichte eines jungen Österreichers, der kein Österreicher sein wollte. Österreich, so meinte der in Triest geborene und in Kärnten aufgewachsene junge Mann, wäre die falsche Heimat, seine richtige jedoch Deutschland. Für die Erreichung dieses Ziels wurde er zum Hochverräter und Handlanger des Nazi-Regimes, zum Exekutor millionenfachen Mordes.

Odilo Globocnik war ein Mann des Befehls, eine wahre „Befehlsmaschine“. Er führte Befehle aus und erteilte Befehle; ja, seine Sehnsucht war der Befehl, gab es keinen klaren Befehl, so fühlte er sich unsicher und bat seine Vorgesetzten um Präzisierung. Genau diese Haltung verlangte er auch von seinen Mitarbeitern: Befehle waren um jeden Preis auszuführen. Das war die eine Seite. Die andere Seite war sein brennender Ehrgeiz, der ihn träumen ließ: von einem neuen „Musterstaat“ und von gigantischen Projekten, mit denen sein Name verbunden sein würde. Und er sehnte sich nach den Zeichen, die davon erzählen würden: nach dem Blutorden und dem Eisernen Kreuz, nach in Erz gegossenen Tafeln.

„Es kommt wieder Salat!“ - Die Todeszüge in die Vernichtungslager

Am 20. Jänner 1942 geht es im repräsentativen Esszimmer der Villa am Großen Wannsee 56–58 hoch her. Auf Einladung von Reinhard Heydrich hat sich ein illustrer Kreis von fünfzehn Herren aus diversen Reichsministerien und SS-Dienststellen, unter ihnen auch Adolf Eichmann, der Protokoll führt, eingefunden. Sie alle sind davon überzeugt, dass sie etwas mitzureden haben, wenn es darum geht, wie auf der Einladung so präzise formuliert, die „Endlösung der Judenfrage“ zu erörtern. Der Beginn der „Konferenz“ ist für 12 Uhr angesetzt, in seinem einleitenden Vortrag stellt sich Heydrich zunächst als „Beauftragter für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ vor und präsentiert dann die neue Lösungsmöglichkeit für die „Judenfrage“: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem unzweifelhaft um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“
Über elf Millionen europäische Juden wären von dieser „Endlösung“ betroffen, eine Zahl, vor der die Herren aus den Ministerien jedoch nicht zurückschrecken: Sie geben „fröhlich“ ihre Zustimmung zu den geplanten „Lösungsmöglichkeiten“. Heydrich hat sich noch sehr verklausuliert ausgedrückt, doch nun wird in „sehr unverblümten Worten“ „von Töten und Eliminieren und Vernichten“ (Adolf Eichmann) gesprochen, die Ordonnanzen der Herren reichen Kognak. In bester Stimmung sichert man sich gegenseitige Unterstützung zu; nach etwa eineinhalb Stunden ist das Treffen zu Ende; Adolf Eichmann bleibt es überlassen, in seinem Büro in der Kurfürstenstraße 116 das fünfzehnseitige Protokoll der „Konferenz“ am Wannsee zu verfassen, das am 26. Februar in 30 Ausfertigungen den Teilnehmern zugeschickt wird.
Wie Eichmann im Verlaufe seines Verhörs durch Avner W. Less 1961 erzählen wird, habe Heydrich zwei Monate nach der „Wannseekonferenz“ beschlossen, Globocnik „rückwirkend“ die Ermächtigung zum Töten der Juden zu übermitteln: „Ich bekam von Heydrich damals den Befehl, für Globocnik den folgenden Brief fertigzumachen: Ich ermächtige Sie, weitere 150.000 Juden der Endösung zuzuführen. Diese Juden waren bereits tot. Ich glaube, es waren wohl 250.000. Er, Globocnik, ließ es sich auch noch ein zweites Mal ausstellen.“ Der Brief, von dem Eichmann spricht, ist nicht erhalten, gut möglich, dass er es ist, der Globocnik und seinen Stab zum Namen „Aktion Reinhardt“ inspiriert. Wie auch immer – mit der Wannseekonferenz ist der geplante Massenmord an den Juden hochoffiziell, die Vernichtungsmaschinerie kann anlaufen…

Lublin in der Nacht vom 16. zum 17. März 1942. Im Ghetto beginnt die „Aussiedlung“, der Judenmord tritt damit in eine neue Phase ein. Bereits am 8. März hat der Judenrat angekündigt, dass all jene von dieser Maßnahme betroffen seien, die über keinen gültigen Arbeitsausweis mit dem entsprechenden Stempel der Sicherheitspolizei verfügten. Wachposten der SS und der Polizei umstellen das Ghetto; Sammelstelle ist der Platz an der Targowa-Straße, wo die Selektion stattfindet. Mit kranken und behinderten Menschen macht die SS nicht viele Umstände – sie werden auf der Stelle erschossen.
Erlaubt ist den zum Transport ausgewählten Opfern die Mitnahme von 15 kg Handgepäck pro Person; mitnehmen dürfen sie auch Geld und Schmuck – diese Wertsachen will man den Juden erst unmittelbar vor ihrer Ermordung abnehmen. Jene, die einen von der SIPO gestempelten Arbeitsausweis besitzen, werden ins Ghetto B gebracht, die anderen müssen in den Zug steigen, der auf dem Güterbahnhof neben dem Schlachthof bereitsteht. Der Zug wird nach dem „Verladen“ plombiert, dann rollt er in Richtung Bełzec aus der Station – der größte systematisch geplante Massenmord der Geschichte hat begonnen.
SS-Obersturmführer Hermann Worthoff führt das Kommando vor Ort, seine Stellvertreter sind die SS-Untersturmführer Walther und Dr. Harry Sturm.
Dr. Harry Sturm, geboren 1912 in Pernau, Estland, hat in Dorpat und Berlin Germanistik und osteuropäische Geschichte studiert, 1939 promoviert er mit einer Arbeit zum Thema „Die Geschichte des Deutschen Theaters im Baltikum“ zum Dr. phil.; in Lublin ist er in der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD tätig und leitet hier das Referat III B, das Volkstumsreferat. Der junge Germanist und Historiker, ein „Quereinsteiger“ in den Reihen des SD, zeigt „besonderen Eifer“ – während der Räumung des Ghettos ist er unermüdlich im Einsatz: Er befehligt kleine Trupps von Gestapo-Angehörigen, „Hiwis“ und jüdischen Ordnungsdienstleuten beim Durchsuchen der Häuser, da kann es schon vorkommen, dass er einige Juden, die in ihrem Versteck aufgestöbert werden, gleich erschießt – so im Haus Grodzkastraße 36, in dem 5 Menschen getötet werden. Harry Sturm ist selbst mit der Pistole schnell zur Hand und tötet ohne zu zögern; eifrig beteiligt er sich auch an den Selektionen, seine Spezialität hier: „Ehen scheiden“ – arbeitsfähige Männer werden von der Deportation zurückgestellt, ihre Frauen und Kinder dagegen in den Tod geschickt. Wollen sich die verzweifelten Mütter von ihren Ehemännern nicht trennen, so schreckt er auch wie sein Chef Worthoff nicht davor zurück, mit der Peitsche auf sie einzuschlagen.

Die Züge, mit denen die Juden in den Tod gefahren werden, stehen auf keinem Fahrplan verzeichnet. Es sind Sonderzüge, bestehend aus abgeschlossenen Viehwaggons oder Güterwagen. Über ihre Abfahrt und ihre Ankunft entscheidet eine Sondergruppe des Dezernats 33 der Generaldirektion der Ostbahn (Gedob) in Krakau, die sich, falls notwendig, mit dem Reichsverkehrsministerium, der Reichsbahn und dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Wilhelm Krüger abstimmt. Die Aufgabe ist in Frühjahr und Sommer 1942 für die Sondergruppe nicht einfach: Hitler und seine Generäle planen eine neue große Offensive in Richtung Stalingrad, da wird jeder Waggon für Truppen- und Materialtransporte benötigt. Himmler sieht sein großes Ziel – die „Umsiedlung“ aller Juden im Generalgouvernement bis zum 31. Dezember 1942 – gefährdet und so muss die SS-Führung selbst im Reichsverkehrsministerium intervenieren. SS-Obergruppenführer Karl Wolff, der Adjutant Himmlers, ruft am 16. Juli Staatssekretär Albert Ganzenmüller, den stellvertretenden Generaldirektor der Reichsbahn, an und erklärt die Lage – die Bahnmanager geben klein bei, organisieren neuerlich Transportraum für die Fortsetzung des Judenmords. Am 28. Juli 1942 gibt Ganzenmüller eine Meldung der Generaldirektion der Ostbahnen an den Parteigenossen Wolff „zur gefälligen Unterrichtung“ weiter: „Seit dem 27. 7. fährt täglich ein Zug mit je 5000 Juden von Warschau über Malkinia nach Treblinka, außerdem zweimal wöchentlich ein Zug mit 5000 Juden von Przemysl nach Belzek (sic!). Gedob steht in ständiger Fühlung mit dem Sicherheitsdienst in Krakau. Dieser ist einverstanden, daß die Transporte von Warschau über Lublin nach Sobibor (bei Lublin) solange ruhen, wie die Umbauarbeiten auf dieser Strecke diese Transporte unmöglich machen (ungefähr Oktober 1942). Die Züge werden mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement vereinbart. SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin, SS-Brigadeführer Globotschnigg (sic!), ist verständigt.“
Zwei Wochen später antwortet Wolff dem „lieben Parteigenossen Ganzenmüller“ in überaus herzlichem Ton. Mit „besonderer Freude“ sehe man sich nun in die Lage versetzt, „diese Bevölkerungsbewegung in einem beschleunigten Tempo durchzuführen“, „eine „reibungslose Durchführung der gesamten Maßnahmen“ erscheine damit gewährleistet.
Aufgrund der Knappheit der Transportmittel sind die Züge zu einer hohen Umlaufgeschwindigkeit angehalten. Schon beim „Verladen“ auf den Bahnhöfen muss alles schnell gehen. Die zusammengetriebenen Juden werden mit Kolben- und Peitschenhieben in die Waggons gepfercht, dann werden die Türen verriegelt und verplombt, für die dicht gedrängt stehenden Menschen gibt es nur wenig Luft und kein Wasser, ihre Notdurft müssen sie an Ort und Stelle verrichten – Bedingungen, die viele nicht überleben.

Die Transporte aus dem Ghetto Lublin gehen auch in den nächsten Tagen weiter; täglich sind es etwa 1400 Menschen, die den Weg in den Tod antreten müssen. Am 21. März wird bekannt, dass auch jene betroffen sein können, die einen von der SIPO gestempelten Arbeitsausweis besitzen. Am 24. März erschießen SS-Männer alle Insassen des jüdischen Waisenhauses im Ghetto – 108 Kinder im Alter von 2 bis 8 Jahren. Die Ermordung der Kinder erfolgt beim Dorf Tatary; der Bauer Karol Mulak berichtet nach dem Krieg über das Blutbad: „Ich erinnere mich, daß die Erde noch festgefroren war, als eines Sonnabends (das Datum kann ich nicht genau angeben, jedenfalls war es im März oder im April) Häftlinge zum Schaufeln von Gruben gebracht wurden. Es geschah auf dem Feld eines gewissen Morawski, ungefähr 50 bis 100 m von mir entfernt. Den ganzen Sonnabend und den halben Sonntag arbeiteten die Häftlinge ununterbrochen, mit der harten Erde ringend. Trotz strenger Verbote und der Anwesenheit einer SD-Wache beobachtete ich von meiner Scheune aus diese merkwürdigen Vorbereitungen. Die Grube war ungefähr 5 m lang und 1,80–2 m tief. Nach beendeter Arbeit marschierten die Häftlinge ab. Eine Totenstille herrschte über den Feldern, eine ahnungsvolle Stille … Gegen 2 Uhr nachmittags kam meine Tochter gelaufen und erzählte erschrocken, dass der Verkehr auf der Chaussee gestoppt worden sei, sowohl für Fußgänger als auch für Militärautos. Gestapoleute in hohen Mützen gehen herum; sie fluchen und schießen, um den Neugierigen einen Schreck einzujagen, und haben sogar den im nahen Krankenhaus befindlichen Soldaten der Wehrmacht befohlen, sich zurückzuziehen. Einer hat sich auf einen Hügel gesetzt mit der Absicht, von dort die in der Hütte beschäftigten Leute zu beschießen, falls sie zu viel Interesse für die Ereignisse, die sich abspielen würden, zeigen sollten. Plötzlich erscheint auf der Chaussee ein riesiger Lastwagen, mit einer schwarzen Plane dicht verhüllt. Er fährt in das ungefähr 100 m von der Chaussee entfernte Feld hinein, auf welchem sich die Grube befindet. Das Auto fährt rücklings dicht an die Grube heran; nachdem die Plane heruntergenommen ist, kommen kleine Kinder zum Vorschein, meistenteils in Windeln eingewickelt. Mit den Kindern sind auch zwei erwachsene Männer gekommen. Die Ukrainer legen die Kinder auf den Sandhaufen, und ein Gestapomann schießt auf sie mit einem Maschinengewehr; nachher wirft einer der Männer die Kinder in den Graben, und der andere steht darin und legt die immer noch in Windeln eingewickelten, noch halb lebendigen, zuckenden Kinder, quer eins neben dem anderen, damit sie möglichst wenig Platz einnehmen sollen …
Die Männer haben blutige Hände, sie wandeln auf dem Feld umher wie Boten aus dem Jenseits; der zweite Gestapomann beschießt mit dem Maschinengewehr die agonisierenden Körperchen da unten, um sie vollends zu töten, um das furchtbare Stöhnen, das von unten heraufdringt, zu übertönen. Das Stöhnen wird stiller, hört aber nicht auf; es hört sich unheimlich an, als ob die Erde zuckte und von Seufzern bewegt würde. Die schreckliche Arbeit ist beendet; die Grube bleibt offen, und das Auto fährt ab, um einen neuen Transport zu holen.

Blick ins Buch

€ 22,00
Broschur
13,5 x 21,5 cm; 368 Seiten
ISBN 978-3-222-15020-3
Erscheinungstermin: 22/02/2018
Sofort lieferbar

Odilo Globocnik

SS-Brigadeführer Odilo Globocnik ist ­,Manager: Manager des Todes. Seine Geschäfte sind der millionenfache Massenmord und der Raub jüdischen Eigentums. Reichsführer-SS Heinrich Himmler protegiert den ehrgeizigen Kärntner und bewundert seine Energie, Joseph Goebbels fasziniert seine „barbarische Methode“, Hitler lässt den fanatischen Antisemiten wohlwollend gewähren: Odilo Globocnik, ab November 1939 SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, entwickelt fantastische Pläne zur „Verdeutschung“ des eroberten Landes. Sein monströser Vorschlag zur „physischen Vernichtung“ der polnischen Juden durch Giftgas findet im Herbst 1941 rasch die Zustimmung Berlins, ab dem März 1942 rollen die Todeszüge in die neu errichteten Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und Treblinka. Mit der von Globocnik geleiteten „Aktion Reinhardt“ erreicht der industrielle Massenmord eine bisher noch nie da gewesene Dimension, bis zum September 1943 sterben allein in den Gaskammern etwa 1,5 Millionen Menschen. „Globus“, wie er von seinen Freunden genannt wird, kennt keine Rücksicht und keine Reue. „Zwei Millionen ham’ma erledigt“, wird Globocnik im Mai 1945 mit zynischer Brutalität feststellen, er selbst mit dem Regime untergehen …

Johannes Sachslehner, geboren 1957 in Scheibbs, studierte an der Universität Wien Germanistik und Geschichte (Dr. phil.) und unterrichtete von 1982 bis 1985 an der Jagiellonen-Universität Krakau als Gastlektor für deutsche Sprache und Literatur. Seit 1989 Verlagslektor. Zahlreiche Publikationen zu historischen und kulturhistorischen Themen.

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Odilo Globocnik

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13,5 x 21,5 cm; 368 Seiten
ISBN 978-3-222-15020-3
Erscheinungstermin: 22/02/2018
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9783222150203 - Odilo Globocnik
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