Leseprobe

Flüchtlinge auf dem Fahrrad Eine Leseprobe

Der „lange Flüchtlingssommer“ von September 2015 bis März 2016 bewegt die Bürger Europas bis heute. Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak von der Tageszeitung „Die Presse“ sprachen für ihr Buch „Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor“ mit Dutzenden Entscheidungsträgern und rekonstruieren mithilfe dieser Hintergrundinformationen die dramatischen Ereignisse. Ein Politkrimi mit überraschenden Einblicken in eine Krise, die immer noch nachwirkt und polarisiert.

Peter Kitzberger traut seinen Augen nicht, als er Anfang Juni 2015 in seinem Audi von einer Sicherheitsinspektion des neuen österreichischen Konsulats in Bitula zurück in die mazedonische Hauptstadt Skopje fährt: Auf der Autobahn kommen ihm auf den Pannenstreifen beider Fahrtrichtungen Flüchtlinge auf Fahrrädern entgegen. Bei 288 hört er auf zu zählen. Der österreichische Polizeiattaché beschließt, sich die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze in Gevgelija genauer anzusehen.

„Las Vegas des Balkan“ nennt sich das schmucklose, staubige 15.000-Seelen-Städtchen kokett. Seine glitzernden Attraktionen heißen Princess, Flamingo und Senator. Mit Kasinos und Zahnarztpraxen lockt Gevgelija Griechen aus dem Nachbarland; die Hafenstadt Thessaloniki ist nur 70 Kilometer entfernt, weniger als eine Autostunde. Doch in diesem Frühsommer suchen hier andere ihr Glück. Sie stechen dem österreichischen Polizeiattaché sofort ins Auge. In kleinen Gruppen streifen Flüchtlinge mit Rucksäcken umher. Noch dürfen sie die Züge der Staatsbahn nicht besteigen, noch müssen sie sich irgendwie weiter in Richtung Norden nach Serbien durchschlagen. Wer Geld hat, nimmt ein Taxi zu maßlos übertriebenen Preisen. Andere gehen bei Nacht zu Fuß über Landstraßen und Bahntrassen, immer der Gefahr ausgesetzt, überrollt oder von Räuberbanden überfallen zu werden. Und manche kaufen sich in Gevgelija für 300 Euro alte Fahrräder, die sie am Ende ihrer Autobahntour in Tabanovce an der serbischen Grenze für höchstens 30 Euro wieder verscherbeln können oder einfach liegen lassen. Von dort bringen Wucherer die Gefährte wieder zurück nach Gevgelija. Ein einträgliches Geschäft. Doch das ist erst der Anfang. Die mazedonische Gemeinde an der Grenze zu Griechenland wird zu einem Markt- und Umschlagplatz der Flüchtlingskrise. Händler bieten Getränke, Essen, Zigaretten und Handy-Ladekabel, verlangen für einen Laib Brot bis zu 16 Euro.

Kitzberger hat den Exodus schon länger auf seinem Radar. Seit April sickern Migranten in großer Zahl aus Griechenland ein. Im Frühsommer wird der Strom breiter, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht sich die Zahl der illegalen Migranten. 1000 pro Tag überschreiten nun die Grenze zu Mazedonien. Es hält sie niemand mehr auf. Die Balkanroute ist aufgegangen: In Kos, Lesbos, Leros, Samos und Chios, den griechischen Inseln nahe der türkischen Küste, landen jeden Tag Hunderte Flüchtlinge in überladenen Schlauchbooten, manchmal direkt vor den Augen der badenden Touristen. Weggeworfene orange Schwimmwesten made in China säumen die Strände. Die nächste Etappe auf dieser Reise der Hoffnung ist weit weniger riskant. Fähren bringen die Gestrandeten nach Athen oder Thessaloniki, und von dort geht es gen Norden nach Mazedonien, dann über Serbien und Ungarn bis nach Österreich und nach Deutschland und Schweden. Auf sozialen Medien kursieren detaillierte Reiseführer für Flüchtlinge – mit konkreten Tipps und Warnungen. Auf WhatsApp und Viber haben sich Selbsthilfegruppen gebildet. Für einen Teil des Trips, auf jeden Fall bis an die ungarische Grenze, sind schon im Juni 2015 keine Schlepper mehr nötig.

Die mazedonische Polizei wird der Lage nicht mehr Herr, sie stellt die Grenzkontrollen ein. Es kommen einfach zu viele. Am 17. Juni kapituliert die ehemalige jugoslawische Teilrepublik offiziell. Das Parlament in Skopje verabschiedet ein neues Gesetz: Fortan hat jeder Einreisende 72 Stunden Zeit, Asyl zu beantragen oder das Land zu durchqueren und zu verlassen. Asyl in Mazedonien will niemand, alle wollen in den Norden. Jetzt dürfen die Flüchtlinge auch in Zügen und Bussen weiterreisen. Serbien verfügt bereits über ähnliche Regelungen. Der staatlich organisierte Weitertransport auf der Balkanroute hat begonnen. Mazedonien winkt durch. Das spricht sich herum und zieht noch mehr Flüchtlinge an. Auf dem Provinzbahnhof von Gevgelija spielen sich chaotische Szenen ab. Zwei Züge fahren pro Tag nach Serbien. Doch das ist zu wenig. Regelmäßig bricht Panik auf dem Bahnsteig aus.

Ungarn schlägt eine komplett andere Richtung ein. Es will einen Zaun hochziehen. Das hat die Regierung in Budapest am 17. Juni, nur drei Tage vor der mazedonischen Öffnung, bekanntgegeben. Ministerpräsident Viktor Orbán muss dafür heftige Schelte einstecken. Europa ist tief zerrissen und damit in der Flüchtlingsfrage gelähmt. Chaos breitet sich aus. Die Kombination aus offenen Grenzen, Taktiken des Durchwinkens und einsetzender Torschlusspanik nach den angekündigten Abschottungsversuchen löst eine gewaltige Dynamik auf der Balkanroute aus. Auf dem Flüchtlingstreck setzt ein regelrechter Run ein. Im Juni wagen 31.000 Menschen ihr Glück, im Juli 63.000, im August 108.000 und im Oktober dann 208.000. Griechenland, Mazedonien und Serbien sind nur die ersten Staaten, die die Kontrolle verlieren. Weitere werden im Sommer, Herbst und Winter 2015 noch folgen.

€ 19,99
E-Book - EPUB
13,5 x 21,5 cm; 208 Seiten
ISBN 978-3-99040-460-7
Erscheinungstermin: 01/10/2017
Sofort lieferbar
€ 19,99
E-Book - Kindle
13,5 x 21,5 cm; 208 Seiten
ISBN 978-3-99040-461-4
Erscheinungstermin: 10/2017
Sofort lieferbar

2015: das europäische Schicksalsjahr

Der „lange Flüchtlingssommer“ bewegt die Bürger Europas bis heute. War die Flüchtlingskrise absehbar? Hat die Europäische Union versagt? Waren sich die Regierungen in Berlin und Wien der Konsequenzen bewusst, als sie in der Nacht auf den 5. September 2015 die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet haben? Warum haben die Behörden monatelang Hunderttausende Migranten unkontrolliert durchmarschieren lassen und niemanden registriert? Und wer hat die Balkanroute im März 2016 wirklich geschlossen?
Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak haben in Interviews mit Dutzenden Entscheidungsträgern Antworten auf diese Fragen gesucht – und gefunden. Ihre Recherche führte die drei Journalisten der Tageszeitung „Die Presse“ von Wien über Deutschland, Ungarn und Slowenien bis nach Mazedonien. In diesem Buch erzählen sie, wie Europas Staatskanzleien die Kontrolle verloren und danach verzweifelt versuchten, sie wiederzuerlangen. Sie analysieren, wie dieses halbe Jahr im Ausnahmezustand Politikerkarrieren beförderte und beendete. Und sie zeigen, wie weit die Folgen der Krise bis heute reichen.

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Christian Ultsch (Mag.), geboren 1969, Studium der Politikwissenschaft, Völkerrecht und Volkswirtschaft. Seit 1996 bei der „Presse“, derzeit Leiter des Außenpolitik-Ressorts und der „Presse am Sonntag“.
Thomas Prior, geboren 1980, arbeitet seit 2007 im innenpolitischen Ressort der Tageszeitung „Die Presse“. Zwischenzeitlich berichtete er als Deutschland-Korrespondent aus Berlin.
Rainer Nowak, geboren 1972, seit September 2012 Chefredakteur der Tageszeitung „Die Presse“, seit Oktober 2014 auch deren Herausgeber. Ausgezeichnet u.a. mit dem „Kurt-Vorhofer-Preis“ (2013) sowie als „Chefredakteur des Jahres“ (2014).

Blick ins Buch

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Flucht

€ 19,99
E-Book - EPUB
13,5 x 21,5 cm; 208 Seiten
ISBN 978-3-99040-460-7
Erscheinungstermin: 01/10/2017
Sofort lieferbar
€ 19,99
E-Book - Kindle
13,5 x 21,5 cm; 208 Seiten
ISBN 978-3-99040-461-4
Erscheinungstermin: 10/2017
Sofort lieferbar
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