Leseprobe

Islam und Frauen - von Anne-Catherine Simon

Feuilleton-Redakteurin Anne-Catherine Simon (Die Presse) denkt rund um das Thema Frauenbild im Islam über eines der sichtbarsten – und umstrittensten – Symbole nach, nämlich das Kopftuch. Besonders am Weltfrauentag sollte offen über die gesellschaftliche Stellung der Frau gesprochen werden.

Das Tuch das spaltet

Für weibliche Muslime ab der Pubertät ist in der Öffentlichkeit die Bedeckung des Körpers, mit Ausnahme von Gesicht, Händen und nach manchen Rechtsgelehrten Füßen, ein religiöses Gebot und damit Teil der Glaubenspraxis. Es liegt in der erzieherischen Verantwortlichkeit der Erziehungsberechtigten, ihre Kinder schon vor deren religiöser Verantwortlichkeit, die mit der Pubertät beginnt, bereits an die islamische Glaubenspraxis heranzuführen. Ein freier Wunsch des Kindes, vor der Pubertät religiöser Praxis nachzugehen, ist positiv zu begleiten und darf nicht unterdrückt werden.“ So heißt es in einem Text, den die „Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (IGGiÖ), die offizielle Vertretung der Muslime in Österreich, im Februar 2017 auf ihre Website gestellt hat. Das Dokument, das vom theologischen „Beratungsrat“ der Glaubensgemeinschaft verfasst wurde, betont auch, dass Menschen, die sich nicht an die Kleidervorschriften hielten, „keinesfalls von anderen abgewertet“ werden dürften. Das muss allerdings nicht den Verzicht auf Überzeugungsversuche oder wie immer gearteten Druck, das „Gebot“ durchzusetzen, bedeuten – eindeutig ist es als Absage an die persönliche Anprangerung von Nicht-Kopftuchträgerinnen oder deren Eltern. Man fühlt sich an Papst Franziskus erinnert, als er 2016 im Gespräch mit Pressevertretern gegen die Ausgrenzung von Homosexuellen aufrief und zugleich bekräftigte, dass Homosexualität „Sünde“ sei.

Religiöse Pflicht - so what?

Wollte Dudu Kücükgöl, studierte Wirtschaftspädagogin und ehemalige Sprecherin der „Muslimischen Jugend Österreich“, auf den Verzicht zu Zwangsmethoden hinweisen, als sie am 6. März 2017 twitterte: „Ja, ,Fard‘ bedeutet religiöse Pflicht – so what?! … Leute, beruhigt euch, das ist kein Gesetz, nur ein religiöses Gebot …“ Seit wann nämlich sind religiöse Gebote ein Kinkerlitzchen im Vergleich zu Gesetzen? Das arabische Wort dafür, „fard“, definiert die langjährige Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft Carla Amina Baghajati in ihrem Buch „Muslimin sein. 25 Fragen – 25 Orientierungen“ als „alles, was in der Glaubenspraxis als verpflichtend zu erfüllen betrachtet wird“.
„Religiöse Pflicht – so what?!“, schrieb also dazu die 1982 geborene Kücükgöl, die sich als muslimische Feministin bezeichnet und ihr Kopftuch trägt, weil sie es für sich als ein religiöses Gebot sieht. Gemeint war die lässige Bemerkung als ironische Replik an die Kritiker. Stimmig allerdings ist das nur, wenn man die von Theologen deklarierten „religiösen Gebote“ selbst nicht allzu ernst nimmt; so wie viele österreichische Katholiken, wenn kirchliche Autoritäten Fastengebote in Erinnerung rufen. Mit dem Unterschied jedenfalls, dass Katholiken selten daran denken, ihre Autoritäten nach außen hin zu verteidigen.
Doch was passiert, wenn man die Frage der „religiösen Gebote“ ernst nimmt? Carla Amina Baghajati, in Mainz geborene Konvertitin, seit Langem in der Islamischen Glaubensgemeinschaft tätig und Mitgründerin der „Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen“, hat den Text der IGGiÖ in einem offenen Brief scharf kritisiert.
Mit sinngemäß drei Argumenten: Der Text trage erstens zur „simplen Gleichung ,muslimische Frau = Kopftuch‘“ bei. Dabei sei die Kopftuchfrage nicht wesentlich im Vergleich zu den fünf Säulen des Islam (Anm.: Glaube, Wohltätigkeit, Gebet, Fasten, Pilgerfahrt). Der Text mache zweitens Koranstellen zum Werkzeug männlicher Bevormundung, die eigentlich frauenfreundlich gemeint seien. Und drittens sollten Frauen in dieser Frage die „Deutungshoheit darüber, was sie anziehen oder nicht anziehen, bei sich selbst halten“.
Nicht nur bei Baghajati kommt in diesem Zusammenhang oft das aufklärerische Konzept der Selbstbestimmung vor. Es findet sich nicht erst bei Immanuel Kant, sondern schon beim englischen Philosophen John Locke. „Niemand ist (…) verpflichtet, den Ermahnungen oder Zumutungen anderer über seine eigne Überzeugung hinaus Gehorsam zu erzeigen“, schrieb Locke, wie Kant übrigens ein hoch religiöser Mensch, in seinem Werk „A Letter concerning Toleration“ (1689). „Jeder hat hier die höchste und uneingeschränkte Autorität, für sich selbst zu urteilen.“ Es dauerte zwei Jahrhunderte, bis dieser Gedanke als Gewissensfreiheit zumindest teilweise in die Lehre der katholischen Kirche Eingang fand.
Angesichts eines „religiösen (Kopftuch-)Gebots“ die freie Entscheidung der Frau zu sichern, ist keine leichte Sache. Und doch gehen weder Baghajati noch Kücükgöl so weit, den Status des Kopftuchtragens als „religiöses Gebot“ überhaupt zu bestreiten. Das ist auffällig, da sie ansonsten alle möglichen Suren und Hadithen, mit denen männliche Dominanz begründet wird, feministisch interpretieren – und diese dabei zum Teil historisch kritischer auslegen, als es für eine Relativierung des Kopftuchs nötig wäre. Warum also stellen Frauen, die sich innerhalb der muslimischen Community Österreichs für mehr Frauenrechte einsetzen, die religiöse „Gebotenheit“ des Kopftuchs nicht einfach infrage?
Diese Inkonsistenz erstaunt etwa in Baghajatis eingangs erwähntem Buch. Die Autorin kann darin scharf und sarkastisch sein, wenn es um Vorstellungen von menstruationsbedingter weiblicher Unverlässlichkeit oder intellektueller Unterlegenheit geht; um die Frage, ob die Frau für den Haushalt zuständig sein soll; um die Präsenz von Frauen in der Moschee; oder auch darum, ob muslimische Männer eine Art „Züchtigungsrecht“ über die Frau haben. Der Aufruf im Koran, dass die Männer vor Frauen ihre Blicke senken sollen, ist für sie einfach ein Gebot zu respektvollem Verhalten. Außerdem wischt sie energisch die alte Vorstellung vom Tisch, derzufolge die weibliche Verhüllung notwendiger Schutz vor dem (beziehungsweise für den) triebgesteuerten Mann sei. Eindeutig wohlwollend gibt Baghajati schließlich die Empfehlung, an den Verhüllungspassagen des Korans „stärker den Ort und die dort üblichen Kleidungsgewohnheiten zu berücksichtigen“ und das dezente Auftreten in den Vordergrund zu stellen.
Und doch bleibt am Ende als einziges klares Fazit dieses Kapitels die Feststellung eines Status quo: „Alle Auslegungstraditionen (,Rechtsschulen‘) sind sich einig darin, dass das Kopftuchtragen einen Teil der Glaubenspraxis ausmacht.“ „Teil der Glaubenspraxis“: Dieser Formulierung begegnet man in Islamdiskussionen häufig. Sie klingt nach einer empirischen Feststellung darüber, wie Menschen ihren Glauben leben. Hier wie im zitierten Kopftuch-Text der IGGiÖ ist jedoch klar, dass mit Glaubenspraxis eine Norm, also „verpflichtende Glaubenspraxis“ gemeint ist. Baghajatis Conclusio in ihrem Buch lautet: „Das Kopftuch ist (...) schlicht und einfach ein Stück Stoff, das einen Aspekt der Glaubenspraxis muslimischer Frauen zum Ausdruck bringt, für oder gegen den sie sich frei entscheiden können sollen.“ Aus dem „Teil“ der Glaubenspraxis ist ein „Aspekt“, also ein Gesichtspunkt, geworden. Doch nur so feine Andeutungen lassen eine Distanz zum Kopftuch als „Gebot“ erahnen.

Mehr als eine private Vorliebe

Diese intellektuelle Verrenkung einer oft so klar denkenden Autorin, die andere Frauenfragen beherzt anpackt: Es bestätigt nur, was es widerlegen will, nämlich dass das Kopftuch mehr ist als eine innerreligiöse Frage oder private Vorliebe. Es drückt bei vielen nicht nur eine religiöse Haltung aus, sondern auch den Wunsch, diese in äußerliche Präsenz zu verwandeln. Diese äußerliche Präsenz ist leichter herstellbar und politisch legitimierbar, wenn sie religiös nicht als „unnötig“ erscheint. Aber auch ohne diesen Anspruch auf Präsenz als muslimisches Kollektiv ist das Kopftuch Zeichen von Solidarisierung und Entsolidarisierung geworden. Die Debatte darum verläuft ganz wie ein verfahrener Beziehungsstreit um ein heikles Thema: Österreichische Nichtmuslime, die das Kopftuch kritisieren, riskieren den Vorwurf der „Islamophobie“, österreichische Muslime den Vorwurf des Dissidententums. „Nichts disqualifiziert im innermuslimischen Diskurs mehr, als wenn einem ein Gedanke vorgeworfen wird, er sei nur entstanden, um dem ,Westen‘ schönzutun.“ Dieser Satz in Baghajatis Buch könnte es nicht besser auf den Punkt bringen. Daraus folgt auch die Haltung: Ja nicht als Muslim etwas sagen, was Kopftuchgegnern außerhalb der muslimischen Community in die Hände spielen könnte.
Wenn junge Frauen ihr Kopftuch als Freiheitssymbol deuten, schwingt diese Rebellion gegen westliche Bevormundung mit. Die Ausstellung „Chapeau!“ im Wien Museum zeigte 2016 ein Kopftuch von Kücükgöl. Für sie ist es Ausdruck ihres Glaubens, aber auch Zeichen des Rechts, ihre körperlichen Grenzen selbst zu definieren (nicht gegenüber der IGGiÖ, sondern gegenüber Kopftuchgegnern). Das Kopftuch kann auch als Fahne der Solidarität mit einem als unterdrückt wahrgenommenen muslimischen Kollektiv gesehen werden oder Rebellion gegen einen „weißen Feminismus“, der religiöse Musliminnen nicht akzeptiere, wie Dudu Kücükgöl in mehreren Interviews kritisiert hat. Es ist nicht Fortsetzung der Tradition, sondern ernstes Spiel mit ihr – ein Spiel auch mit doppeltem kommunikativen Boden. Ich setze ein Statement –, aber kommt bloß nicht auf die Idee, es als solches zu lesen. Ist doch nur „ein Stück Stoff“, „nur ein religiöses Gebot“. Feministische Kopftuchkritik geht auch dort ins Leere, wo das Kopftuch zum Zeichen von Nicht-Mainstream-Sein wird (in Bezug auf „westliche“ Lebensart). „Damit fühle ich mich ich selbst“, heißt es in Begründungen oft. Als Identitätsmarke eines souveränen Individuums ist es auch eine Spielart der demonstrativen Outingkultur: Jeder soll sehen, was ich bin – in diesem Fall religiös.
In vorliberalen Lebens- und Denkweisen bedeutet ein Kopftuch etwas anderes als in liberalen (oder auch schon postliberalen?). All diese Bedeutungen bestehen heute in Österreich nebeneinander, und diese Vielfalt ist zum beliebtesten Beweis für die Borniertheit jeder Kopftuchkritik geworden. Es sei doch längst nicht mehr nur ein Zeichen weiblicher Unterordnung, heißt es dann. Doch es gibt Einwände, die von dieser Vielfalt der Motive nicht berührt werden. Das heißt zwar nicht, dass Kopftuchkritiker zwangsläufig recht haben – wohl aber, dass sie nicht zwangsläufig nur unrecht haben.

€ 17,99
E-Book - EPUB
13,5 x 21,5 cm; 160 Seiten
ISBN 978-3-99040-462-1
Erscheinungstermin: 09/2017
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E-Book - Kindle
13,5 x 21,5 cm; 160 Seiten
ISBN 978-3-99040-463-8
Erscheinungstermin: 01/09/2017
Sofort lieferbar

Parallelgesellschaft oder „angekommen“?

In jüngster Zeit dominieren Begriffe wie „Radikalismus“, „Terrorgefahr“ und „Integrationsverweigerung“ die öffentliche Debatte, wenn es um die islamische Community in Österreich geht. Es ist eine Debatte, die von politischen Akteuren mit viel Aufregung geführt wird – und die eher auf Gefühlen als auf Fakten aufbaut.
Höchste Zeit für einen differenzierten Blick: Redakteurinnen und Redakteure der Tageszeitung „Die Presse“ beleuchten die Rolle, die Muslime heute in Österreich spielen. Von Erziehung und Bildung, der Rolle der Frau bis hin zu Politik und Wirtschaft. Das Ergebnis: oft überraschende Erkenntnisse über die bunte Vielfalt der Einflüsse und eine umfassende Analyse, wo es beim Zusammenleben noch hakt und wo es bereits ein konstruktives Miteinander gibt.

Aus dem Inhalt:
Vorwort: Das Wir und das Ihr (Rainer Nowak &, Erich Kocina)
Islam und Österreich: Die muslimische Volkszählung (Erich Kocina)
Islam und Politik: Ein schwieriger Umgang (Oliver Pink)
Islam und katholische Kirche: Mehr Neben- als Miteinander (Dietmar Neuwirth)
Islam und Wirtschaft: Österreichs Halal-Ökonomie (Jakob Zirm)
Islam und Kindergarten: Radikalisierung und Skandalisierung (Eva Winroither)
Islam und Schule: Weltanschauungen im Klassenzimmer (Bernadette Bayrhammer)
Islam und Frauen: Das Tuch, das spaltet (Anne-Catherine Simon)
Islam und die Türken: Der Einfluss der alten Heimat (Köksal Baltaci)
Islam und Extremismus: Die Kinder des Jihad (Anna Thalhammer)
Islam und Antisemitismus: Neuer Import des alten Gifts (Rainer Nowak)
Islam und Recht: Kein Minarett und keine Burka (Benedikt Kommenda)
Islam und Medien: Viel beachtet, oft falsch dargestellt (Anna-Maria Wallner)
Islam und Bundesheer: Freitagsgebet in Uniform (Iris Bonavida)
Islam und Justiz: Muslime hinter Gittern (Manfred Seeh)
Islam und Vorbildwirkung: Der Kickboxer als Role Model (Gerhard Bitzan)
Islam und Diskriminierung: Muslime als Feindbild (Erich Kocina)
Islam und Minderheiten: Die „anderen“ Muslime (Duygu Özkan)

In Kooperation mit
Die Presse

Rainer Nowak, geboren 1972, seit September 2012 Chefredakteur der Tageszeitung „Die Presse“, seit Oktober 2014 auch deren Herausgeber. Ausgezeichnet u.a. mit dem „Kurt-Vorhofer-Preis“ (2013) sowie als „Chefredakteur des Jahres“ (2014).
Erich Kocina (Mag.), geboren 1974, Studium der Publizistik, seit 2002 bei der „Presse“. Derzeit stellvertretender Leiter des Chronik Ressorts mit Fokus auf Integration und Islam. 2017 wurde er als „Lokaljournalist des Jahres für Wien“ ausgezeichnet.

Blick ins Buch

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Gehört der Islam zu Österreich?

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