Josephine Baker - Leseprobe

Ist das Projekt Regenbogenfamilie gelungen?

Die Kinder 

Im Rückblick scheint die Kette der Entscheidungen und Ereignisse fatal – vor allem für die Kinder. Der ruhige Pol und die konstante Bezugsperson über die Jahre war immer Jo.
Joséphine als Mutter war entweder abwesend oder ein Ereignis: „Wenn Mama wiederkam“, erinnert sich Louis, „war das jedes Mal ein Fest. Ihr Gepäck war immer hochinteressant; außer den großen Koffern mit ihrer Garderobe hatte sie immer eine Menge verschnürter Päckchen dabei, das war das Spannendste.“

Wie ein liebevoller Wirbelwind bringt sie den Alltag durcheinander, überschüttet sie alle mit Geschenken und Zuneigung, sie verwöhnt die Kinder und Jo, dessen Routine die Kinder stabilisiert, schaut hilflos zu. Für Kinder, die Regeln brauchen, um sich zurechtzufinden, ist das aufregend, aber auch irritierend.
Die Geschwister wachsen in einem Schloss auf, das ihr Zuhause ist, in den Sommermonaten aber von Touristenscharen
besucht wird, die ihre weltberühmte Adoptivmutter bestaunen – und auch sie. Darin liegt vielleicht die größte Tragik: Joséphines Traum von einer Welt ohne Rassismus kann sich nur erfüllen, wenn sie diesen Traum nicht zurückgezogen lebt, sie muss die Kinder und sich für die Öffentlichkeit inszenieren, um für ihre Ideale werben zu können.

In regelmäßigen Abständen ist die Presse zu Gast und die Familie posiert für Werbekampagnen. Dafür „uniformiert“ Joséphine ihre Kinder in ähnlicher Kleidung, was einerseits ihre Gleichheit betonen soll und doch ebenso stark ihre Unterschiede akzentuiert.
Auch wenn Joséphine nur die besten Absichten hat, so instrumentalisiert sie doch ihre Familie, die Konsequenzen bleiben nicht aus. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus dem Jahr 2009 erzählt Jari, dass er und seine Geschwister sich oft vorgeführt gefühlt hätten. Er ist damals einer der wenigen, die überhaupt noch mit der Presse sprechen.

Auch in Les Milandes, das heute wieder ein Ausflugsziel ist und ein Joséphine- Baker-Museum beherbergt, sucht man Fotos der Regenbogenfamilie vergeblich, die Geschwister „sind es leid, ausgestellt zu werden“.

Jari meint rückblickend, dass seine Mutter zu besitzergreifend war, dass keines der Kinder sich so entwickeln durfte, wie es wollte, doch gleichzeitig sieht er darin ihre Anhänglichkeit und Angst, die Kinder zu verlieren. Er hat Verständnis, wie alle anderen Familienmitglieder auch: „Mütter machen Fehler. Niemand ist perfekt.“
Dass die Geschwister sich als Familie fühlen, ist kein kleines Erbe, das Joséphine ihren Kindern mitgibt – und diese führen es fort: Jean-Claude Bouillon-Baker berichtet, dass „Josephine, eines von neun Enkelkindern von Joséphine am 4. Juni 2016 in der Schlosskapelle von Les Milandes geheiratet hat, exakt 69 Jahre nach ihrer Großmutter, die mit 69 Jahren gestorben ist … die
1969 aus Les Milandes vertieben wurde!“ und merkt an: „Eine Verwicklung von kleinen Zeichen und Symbolen, die vielleicht zeigen, dass die Legende von Joséphine Baker weiterlebt …“
Diese Zahlensymbolik steht als Hoffnungsträger am Ende der letzten von sehr wenigen Interviews und Publikationen der Kinder der Regenbogenfamilie.

Außer Jean-Claude Bouillon-Baker haben Akio Baker, Luis Bouillon, Brahim-Brian Bouillon-Baker, Marianne Zinzen (ehem.
Bouillon) und Jean-Claude Rouzaud an der Graphic Novel Josephine Baker mitgewirkt. Ihre autobiografischen Darstellungen werfen ein interessantes Licht auf Joséphine Baker. Brahim berichtigt die Darstellung seiner Mutter: „Die Geschichte, dass ich und Marianne als Babys aus dem Massaker in Palestro gerettet wurden, hat sich Mutter ausgedacht“, stattdessen hat Joséphine sowohl ihn als auch Marianne aus einem Waisenhaus in Orléansville (heute El-Asnam) mitgenommen.

Akio erfährt in den frühen 1970er-Jahren, dass Joséphine auch seine Herkunft erfunden hat: „Als Mutter mit Jeannot und mir zurückkam, hätte sie das Konzept der Regenbogenfamilie nicht rechtfertigen können, wenn wir beide die gleich Nationalität gehabt hätten. Der Koreakrieg war damals auf seinem Höhepunkt. Also wurde ich Koreaner! Eine kleine Notlüge …“

Jean-Claude Rouzaud, der sich Baker nennt, ist bereits vierzehn Jahre alt, als Joséphine ihn 1950 als „Ausnahmekind“ in ihre Obhut nimmt, und damit älter als alle anderen Kinder. Der „große Bruder“ wird nicht von ihr adoptiert, nimmt jedoch ihren Namen an – er hat nie das Gefühl, sich von Joséphine emanzipieren zu müssen, im Gegenteil: 1986 eröffnet er in New York ein Chez Josephine, und schreibt gemeinsam mit Chris Chase die erste umfassende Biografie seiner „Mutter“: The Hungry Heart, die 1976 erscheint. Erst 2012 legt Jean-Claude Bouillon-Baker mit einem autobiografischen Bericht nach. In Un château sur la Lune. Le rêve brisé de Joséphine Baker („Ein Schloß auf dem Mond. Der zerbrochene Traum der Joséphine Baker“) berichtet er über die Regenbogenfamilie. In der Graphic Novel schreibt er: „Wann immer einer von uns zur Welt kam, wütete irgendwo ein Krieg … ein Konflikt, der aufflackerte und die Menschen in zwei Kategorien unterteilte: Die Lebenden und die Toten.
Aus diesem Chaos holte unsere Mutter die Mitglieder der Regenbogenfamilie.
Manche waren Kriegswaisen aus Korea oder Algerien. Andere waren im Stich gelassene Babys – ob absichtlich oder nicht, immer spielte Armut eine Rolle. Langfristige Zahlungen, eine geheime Absprache zwischen unserer Mutter und der biologischen, haben das Schicksal von anderen besiegelt. Keiner von uns hatte einen glücklichen Start.“

Jean-Claude stellt die Fragen, die sich viele stellen: Waren die Kinder glücklich? Welches Verhältnis haben sie heute? Ist das Projekt Regenbogenfamilie gelungen? Laut ihm hat Joséphine es geschafft, Harmonie und Toleranz zu schaffen, weil alle Kinder von frühester Kindheit an zusammengelebt haben und sie „ihnen eine Idee in die jungen, formbaren Köpfe und Herzen gesetzt hat – auch wenn sie nicht gleich aussehen, sie würden sich ähnlich sehen – bis das so war! Das war Mutters tägliches Credo, ihre unzerstörbare Überzeugung, jeder Häme, jedem Skeptiker, allem Sarkasmus zum Trotz. (…) Ungeachtet der Distanz zwischen Buenos Aires und New York, zwischen New York und Paris, zwischen Paris und Monaco, zwischen Monaco und Venedig – obwohl alle weit voneinander entfernt leben und in unterschiedlichen Berufen tätig sind, sie treffen sich, wann immer es möglich ist.“ Was bleibt? „Der Lichtblick, dass eine andere Art Liebe möglich ist, mitgegeben in Milandes, von einer außergewöhnlichen Frau."

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