Schonungslose, selbstbewusste Reise nach innen

Maria Lassnig

Der Mensch ist wie ein Gulasch, Emotionen und Einwirkungen der Außenwelt
vermischen sich, meint Maria Lassnig. Auf ihren „Körpergefühlsbildern“
malt sie, was sie spürt und nicht das, was sie sieht. Selbstbeobachtungen
dominieren das Werk der gr​oßen Malerin.

Kunst aus Österreich, Michael Horowitz - © MOLDEN Verlag Bild vergrößern Foto: MOLDEN Verlag

Leseprobe aus: Kunst aus Österreich, Michael Horowitz, MOLDEN Verlag 2021

Ihr Geburtsort klingt, als ob ihn Thomas Bernhard erfunden hätte: Kappel am Krappfeld. An einem Frühherbsttag vor hundert Jahren wird die Kärntner Künstlerin geboren: Maria Lassnig. 

„Wahrscheinlich gibt es keine Malerin des 20. Jahrhunderts, die einen vergleichbaren Einfluss auf Generationen von Künstlern und Künstlerinnen hat wie Lassnig“, meint Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder, „aber ungeachtet ihrer Bedeutung als Erfinderin der ‚Body Awareness Art‘ ragt die Malerei der Österreicherin auch künstlerisch heraus wie nur ganz selten ein Werk. Jahrzehntelang verkannt und unterschätzt, zählt Maria Lassnig heute zu den herausragenden Gestalten der jüngeren Kunstgeschichte.“ 

Weil sie 94 Jahre alt wird, ist es der lange erfolglosen Ausnahmekünstlerin, die fix damit rechnet, hundert Jahre alt zu werden, noch vergönnt, ihre großen Anerkennungen zu erleben: Als erste bildende Künstlerin erhält sie den Großen Österreichischen Staatspreis; 2013 wird sie auf der 55. Kunstbiennale mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt, sie lässt allerdings ausrichten, jetzt zu alt für die Reise zu sein, außerdem sei in Venedig zu viel Wasser. In Museen wird sie weltweit gefeiert und ihre Bilder erzielen auf dem internationalen Kunstmarkt Höchstpreise wie zum Beispiel das Ölbild Korkenziehermann mit mehr als einer halben Million Euro. 

Auf YouTube erzählt Lassnig in einem launigen Zeichentrickfilm 7,37 Minuten lang singend ihr Leben, wie in Kappel am Krappfeld für das auf den Namen Maria Eleonora getaufte Mädchen alles beginnt: „Mein Elternhaus, das war ein wahres Drama, die Häferln flogen kreuz und flogen quer.“ Das uneheliche Kind ist auf der Nonnenschule brav und folgsam und wird dafür geneckt. Gott habe sie nicht zur Schönheit auserkoren, singt sie, aber er habe ihr Talent fürs Zeichnen gegeben. Es wird ihr Mittel, sich gegen Mutter Mathilde durchzusetzen, die sie „bestimmt für Weib- und Mannespflicht“ sieht.

Es beginnt mit dem Drama der Kindheit in Kärnten – bis zu ihrem sechsten Lebensjahr wächst das liebeshungrige Mädchen vernachlässigt bei der Großmutter auf. Es folgt die Arbeit als Volksschullehrerin während der ersten Kriegsjahre und danach das Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo sie wegen ihrer expressiven Art zu malen von Professor Dachauer bald aus der Klasse geworfen wird: „Lassnig, Sie malen ja ganz entartet …“ Jahrzehnte später ist Lassnig die erste Professorin für Malerei im deutschsprachigen Raum. Erst im Alter von 78 Jahren beendet sie ihre Lehrtätigkeit. 

Maria Lassnig entwickelt sich früh zu einer charismatischen, aber sperrigen, zähen und eigenwilligen Persönlichkeit. Zu einer Künstlerin, die sich allen Strömungen widersetzt, dem künstlerischen Zeitgeist zunächst weit voraus ist und lange überall Außenseiterin bleibt. Eine Kämpferin, die sich nie von ihrem Weg abbringen lässt. Ihre Körpergefühlsbilder, die sie bereits Ende der 1940er Jahre beginnt, wollen lange Zeit nur wenige sehen. Den Ruhm, den sie verdient, erntet sie erst spät.

Ab den 1950er Jahren reist sie mehrmals mit ihrem zehn Jahre jüngeren Freund Arnulf Rainer nach Paris; die neu aufkommenden informellen Tendenzen inspirieren sie. Während der 1960er Jahre lebt Lassnig sechs Jahre in Paris, doch der erhoffte künstlerische Durchbruch gelingt ihr nicht. Die nächste Station der Künstlerin, die der Enge der Heimat immer wieder entflieht, ist 1968 das East Village von Manhattan. Doch auch in New York kann sie mit ihren Bildern nicht reüssieren, und dreht Animationsfilme.

Sie beginnt sich sehr früh mit der überbordenden Technisierung des Menschen auseinanderzusetzen: Ihre Filmcollagen aus mehreren Jahrzehnten gelten als richtungsweisend: Auf ihrem Kleinen Sciencefiction-Selbstportrait des Jahres 1995 präsentiert sie sich mit einem wuchtigen rechteckigen Gebilde vor den Augen – der menschliche Körper mutiert zum Medium, das Bilder generiert.

Auf ihren expressiven, furchtlosen und selbstbewussten Bildern taucht sie immer wieder selbst auf, immer spricht wie ihr Körpermund aus dem Jahr 1959 für sie: „Ich trete gleichsam nackt vor die Leinwand, ohne Absicht … und lasse es entstehen“, so Lassnig, „das einzig mir wirklich Reale sind meine Gefühle, die sich innerhalb meines Körpergehäuses abspielen“.

Am Ende ihres Lebens setzt sie sich auch mit dem Alter auseinander. Wie im Bild Hospital, das sieche Senioren im Krankenhaus zeigt. Und noch als 82-Jährige posiert sie selbst für das Bild Landmädchen. Hüllenlos und herausfordernd auf einem knallroten Moped. Die grellen Farben ihrer Körpergefühlsbilder erinnern an David Hockney.

Arbeitet sie an diesen oft überlebensgroßen Bildern, begibt sie sich auf eine Reise nach innen: Sie schließt mitunter die Augen, stopft sich die Ohren zu, beginnt zu malen und drückt ihre Gefühle aus. Neben dem Bild liegend oder schräg aufgestützt. Es entsteht ein Mix aus Emotionen und Einwirkungen der Außenwelt: „Es mischt sich ja alles. Der Mensch ist wie ein Gulasch“, fasst Lassnig zusammen.

Auf ihren drastischen, mutigen Selbstporträts malt sie sich so, wie sie sich gerade wahrnimmt: Oft nackt, verbogen, verzerrt oder deformiert, als Tier oder überdimensionales Auge, mit Kochtopf auf dem Kopf, mit Stelzen statt Füßen. In der Schutzlosigkeit des Alters sieht man sie auf dem Bild Du oder ich mit schlaffen Brüsten und faltigem Bauch – schonungslos gegen sich selbst. In ihren Händen hält sie zwei Pistolen – die eine zielt auf ihr Gegenüber, die andere auf den eigenen Kopf. Ihre Bilder sind immer fern aller Schönheitsideale, sie sollen „lieber penetrant als elegant sein“, bekennt Lassnig. Manchmal auch scharf zugespitzt, die an Comic-Meisterwerke erinnern.

Maria Lassnig lockt den Betrachter ihrer Bilder in eine ganz persönliche, tiefgründige, mitunter auch humorvolle Welt ihres Empfindens. Der emotionalen Spannung zwischen innerer und äußerer Welt kann man sich kaum entziehen. Und beim Erkunden ihrer Bilder stellen sich Fragen: „Was ist das, was uns ausmacht, was uns zusammenhält? Was heißt eigentlich sehen?“, wie ihr vermutlich wichtigster Freund Oswald Wiener in einem Aufsatz schreibt.

Die lange verkannte Ausnahmekünstlerin arbeitet bis zum Schluss. „Es ist die Kunst, die macht mich immer jünger, sie macht den Geist hungrig und dann zart“, meint sie am Ende ihres Lebens. Fast 95-jährig.

  • Michael Horowitz
  • Kunst aus Österreich
  • 50 Menschen, die das 20. Jahrhundert prägten
€ 28,00
Hardcover
17 x 24 cm; 224 Seiten
ISBN 978-3-222-15064-7
Erscheinungstermin: 11/10/2021
Sofort lieferbar

Von der Secession zur Postmoderne

Vom exzessiven Enfant terrible Egon Schiele bis zu den „Körpergefühlsbildern“ der Maria Lassnig, von Adolf Loos, dem provokanten Wegbereiter der modernen Architektur, bis zu Friedensreich Hundertwasser, dem weltweit hoch gehandelten Meister der Fantasie: In den pointierten Kurzporträts seines neuen Kompendiums präsentiert Michael Horowitz 50 Künstlerinnen und Künstler Österreichs. 50 Menschen, die das 20. Jahrhundert prägten. Maler und Bildhauer, aber auch Architekten, Kunsthandwerker, Objektkünstler und Aktionisten, die weit über die Grenzen des Landes für Furore sorgten.

Ein Buch als Reiseführer durch die grossartige österreichische Welt der Kunst.

• Die bedeutendsten Künstlerinnen und Künstler Österreichs entdecken und wiederentdecken
• Endlich mitreden können: Pointierte Porträts und wegweisende Hauptwerke
• Ein reich bebildeter Reiseführer durch die Welt der Kunst

Michael Horowitz ist Fotograf, Journalist, Schriftsteller und Verleger. Der Autor von Biografien, u. a. über Helmut Qualtinger, H. C. Artmann und Leonard Bernstein, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit österreichischen Künstlerinnen und Künstlern. Mit manchen von ihnen ist er seit längerer Zeit befreundet. Zuletzt erschien im Molden Verlag von Michael Horowitz der Band „100 Menschen, die Österreich bewegten“. Gemeinsam mit Otto Schenk veröffentlichte er zum 90. Geburtstag des Schauspielers „Schenk. Das Buch“.

Blick ins Buch

zoom zoom

Kunst aus Österreich

€ 28,00
Hardcover
17 x 24 cm; 224 Seiten
ISBN 978-3-222-15064-7
Erscheinungstermin: 11/10/2021
Sofort lieferbar
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
9783222150647 - Kunst aus Österreich
Diesen Artikel Teilen

Ja, ich möchte mich für den Newsletter anmelden.