Briefe aus Charkiw

Tagebuch aus Charkiw I "Warum tun sie uns das an?"

»Bitte teilen Sie meine Geschichte und zeigen Sie sie der ganzen Welt.« Per Brief erzählt die ukrainische Künstlerin Olia Fedorova von der verzweifelten Lage in Charkiw.

Die Caritas hat zusammen mit der Kleinen Zeitung ein Spendenkonto für die Betroffenen in der Ukraine eingerichtet.

Wir haben nun den siebenten Kriegstag in der Ukraine hinter uns. Meine Heimatstadt, mein wunderschönes Charkiw, wird bereits seit vier, fünf Tagen hintereinander schwer bombardiert, ich habe keine Ahnung, wie lange das noch so weitergeht.

Ich höre Kampfflugzeuge über unsere Köpfe fliegen. Einige Male waren die Explosionen so nah, dass unsere Fenster zitterten und die Alarmanlagen der Autos draußen zu schrillen begannen. Einige waren so laut, dass wir kaum bekleidet und ohne Schuhe aus unserer Wohnung rannten.

Einiges ist für uns zur Gewohnheit geworden. Zum Beispiel, wenn wir oben in unserer Wohnung bleiben und in der Ferne Explosionen hören, dann bewegen wir uns nicht einmal, rennen nicht in den Keller, weil wir wissen, dass sie die Häuser von anderen bombardieren, nicht unsere Häuser.

Wir haben uns auch an die Dunkelheit gewöhnt – wir haben das Glück, dass in unserem Haus die gesamte Infrastruktur funktioniert: Strom, Wasser, Heizung. In anderen Bezirken fällt das eine oder andere zwischendurch aus, aber nach Sonnenuntergang schalten wir in unseren Wohnungen kein Licht mehr ein, denn das könnte die Aufmerksamkeit des Feindes oder von Plünderern oder von Saboteuren erregen. Wir haben angefangen, in der Dunkelheit perfekt zu sehen. Denn man kann nicht einmal das Licht am Handy einschalten, weil man durch die Fenster, wenn die Nacht hereinbricht und es draußen ganz, ganz dunkel ist, selbst dieses Licht ganz deutlich sehen kann.

Abgesehen von der völligen Dunkelheit ist es draußen so still – natürlich nur, wenn es keinen Beschuss gibt. Unsere Stadt war noch nie so leer und still. Obwohl ich das gar nicht genau sagen kann – das letzte Mal war ich am ersten Tag des Krieges draußen.

Oder nein, heute war ich einmal an der frischen Luft, nur für einige Minuten, als ich meiner Mutter half, die aus ihrem Viertel geflohen war und die es geschafft hatte, zu uns zu kommen, ihre Sachen aus dem Auto zu holen. Dann hörte ich diese sehr lauten Explosionen. Heute waren sie wirklich sehr nahe.

Jetzt habe ich meine Mutter hier, wir sind endlich zusammen! Die letzten sechs Tage hat sie mit ihren Freunden in einem Keller in der Nähe ihres Hauses im Bezirk Saltivka verbracht, dem zweitgrößten Wohnbezirk der Ukraine mit fast einer halben Million Einwohnern. Der Bezirk besteht hauptsächlich aus neunstöckigen Plattenbauten. Zielen die russische Artillerie und die Kampfflugzeuge speziell auf solche Gebiete, weil sie dort viel mehr Zivilisten töten können?

Das russische Kommando zeigt seine Wut. Seine Wut auf Charkiw und andere ostukrainische Städte wie Mariupol, und sie bombardieren uns buchstäblich mit ihrer Wut.

Wagen sie es nicht einmal mehr, sich vom Boden aus zu nähern, weil ihre Bodentruppen so demoralisiert und demotiviert sind, dass sie kapitulieren, sobald sie unsere ukrainischen Kämpfer am Horizont sehen? Oder weshalb sonst beschießen sie uns mit den Raketen, die von den Kampfflugzeugen vier bis fünf Mal am Tag abgefeuert werden. Sie schießen auch Raketen von ihrem eigenen Territorium aus ab, von den Stützpunkten in der Nähe der Stadt Belgorod, die unweit der Grenze liegt.

Warum tun sie uns das an? Weil sie davon ausgingen, dass sich Charkiw ohne einen einzigen Schuss ergeben würde? Das dachten sie wohl, weil Charkiw geografisch und historisch nahe an Russland liegt, weil die Menschen Wurzeln oder Familien oder viele Verwandte in Russland haben, weil wir eine zweisprachige Region sind, in der die Menschen Ukrainisch und Russisch sprechen.

Sie dachten, dass wir sie mit Blumen empfangen werden, wenn sie in unsere Stadt kommen, als »Befreier«, als »Retter«. Aber die einzigen Blumen, die wir für sie haben, sind zwei Nelken. Diese Blumen, eine gerade Anzahl, legen wir in der Ukraine normalerweise auf die Gräber. Aber wir werden sie nicht auf die Gräber der russischen Soldaten legen können. Denn sie haben hier nicht einmal Gräber.

Übersetzung: Anton Lederer
Zur Verfügung gestellt von der Kleinen Zeitung

Spenden erbeten an:
Empfängername: Caritas
Spen­den­kon­to BAWAG PSK
IBAN: AT 34 6000 0000 0792 5700
BIC: BA­WAAT­WW
Ver­wen­dungs­zweck: Ukrai­ne KLZ
Alle Spenden sind steuerlich absetzbar.

Diesen Artikel Teilen

Ja, ich möchte mich für den Newsletter anmelden.