Villa Löw-Beer, Villa Tugendhat und Villa Stiassni, Brünn

Ikonen der Architektur

In punkto Architektur ist Brünn eine Stadt von Weltrang. Drei Villen stechen dabei hervor.

»Wir liebten das Haus vom ersten Augenblick an«, sagte Grete Tugendhat, als sie 30 Jahre, nachdem sie ihre ikonische Villa durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten verloren hatte, wieder nach Brünn zurückkehrte. Sie schilderte, wie ihr Mann den Wintergarten mit Pflanzen einrichtete, sie die Zeit zu zweit in der Bibliothek genossen, wie ihre Kinder auf der Terrasse spielten und wie sie mit Freundinnen und Freunden im Speisebereich vor den Glaswänden saßen und das milde Licht sie beschien. Die Villa Tugendhat, vom deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe geplant, ist nicht nur eines der bedeutendsten Architekturjuwele der Welt, ihr sind die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und das schmerzhafte Schicksal ihrer Bewohnerinnen und Bewohner eingeschrieben.

Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert brachten Brünn zu einer Blüte. Damals wuchs die kleine Stadt zu einem Industriezentrum heran und die Einwohnerzahl schnellte in die Höhe: von 9.000 im Jahr 1781 auf 270.000 im Jahr 1910. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die staatliche Brünner Textilmanufaktur zu einem florierenden Betrieb ausgebaut. Als attraktiver Investitionsstandort lockte Brünn nun neue Textilproduzenten an. Im 19. Jahrhundert verbesserte sich sukzessive die rechtliche Situation der jüdischen Bevölkerung. Das Staatsgrundgesetz von 1867 brachte den Juden in Österreich-Ungarn die vollkommene Gleichstellung und endlich durften sie sich frei bewegen und Grund erwerben. Die Familie Löw-Beer begann sich vom Ghetto von Boskovice – etwa 40 Kilometer nördlich von Brünn – aus mit zahlreichen unternehmerischen Aktivitäten zu verzweigen. Die Brüder Aron und Jacob Löw-Beer kamen als erste nach Brünn und betrieben eine Streichgarnherstellung. Ihre Zweigstelle in Brneˇnec war die spätere Fabrik von Oskar Schindler, der 1.200 Jüdinnen und Juden in der Nazizeit vor dem Tod rettete, was später im Film Schindlers Liste einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Über vier Generationen entwickelten sich die Löw-Beers zu einer der wichtigsten Industriellenfamilien Mährens, die tausende Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftige.

Brünn wurde eine Art österreichisch-ungarisches Manchester, wo zwei Drittel der gesamten Textilproduktion der Monarchie beheimatet waren. Außerdem kam der Maschinenbau als weiterer großer Wirtschaftszweig hinzu. Die Stadt wuchs und 1850 wurden 27 Vorstädte eingemeindet. Mit dem Abriss der alten Befestigungsanlagen und dem Bau einer Ringstraße nach Wiener Vorbild ging auch der Umbau zu einer modernen Provinzmetropole einher. Nach der Ausrufung der Ersten Tschechoslowakischen Republik wurde Brünn zur Landeshauptstadt Mährens. Neuer Stadtraum entstand und durch den Zuzug mussten zusätzliche Wohnmöglichkeiten erschlossen werden. In Brünn entwickelte sich eine eigene Architekturszene. Größen wie Le Corbusier, Walter Gropius und Adolf Loos hielten Vorlesungen in der Stadt und beeinflussten die weitere Stadtentwicklung. Eine der Glanzleistungen dieser Zeit war der funktionalistische Ausbau des Messegeländes im Jahr 1928. Bevor die Nationalsozialisten Terror und Zerstörung über das Land brachten, befand sich Brünn in einem Goldenen Zeitalter der Architektur.

 

Die Villa Löw-Beer

Im Brünner Stadtteil Cˇerná Pole entstand ab 1860 eines der ersten Villenviertel Mitteleuropas. Eine Augenweide ist der Stiegenaufgang in der Schodová-Straße mit seinem auffälligen Portikus, der vom Park Lužánky aus wie ein Eingang in diese Welt schöner Häuser wirkt.
In der Nähe steht die Villa Löw-Beer an der Drobného-Straße. Der Unternehmer Moritz Fuhrmann ließ die Jugendstilvilla vom Wiener Architekten Alexander Neumann erbauen. Nach Fuhrmanns Tod kaufte Alfred Löw-Beer die Villa im Jahr 1913 und zog mit seiner Frau Marianne und den Kindern Max, Grete und Hans ein. Alfred Löw-Beer war führender Repräsentant des Woll-Industriellen-Vereins in Mähren und eine Größe des öffentlichen Lebens in Brünn. Noch in den 1930er Jahren ließ er die Villa im Innenbereich umbauen.

Wenige Jahre später musste die Familie vor den Nationalsozialisten fliehen. Alfred Löw-Beer hatte einen Vertrauensmann eingesetzt, der seine Firma leitete und sich um die Villa kümmerte, die Nationalsozialisten aber konfiszierten den Besitz 1940 und benutzten die Villa als Gestapo-Gebäude. Alfred Löw-Beer starb auf der Flucht unter ungeklärten Umständen in der Schweiz. Nach 1945 ging die Villa in Staatseigentum über und wurde als Kinderheim genutzt. Seit 2016 beherbergt sie eine ständige Ausstellung über die Welt der Brünner Bourgeoisie, die Einblicke in das Leben der Löw-Beers, der Tugendhats und ebenso in die Entwicklung der Brünner Architektur gibt.

 

Die Villa Tugendhat

Vom weitläufigen Garten der Villa Löw-Beer aus ist schon die Villa Tugendhat zu sehen, 

die sich am Grundstück oberhalb befindet. Alfred Löw-Beer schenkte dieses seiner Tochter Grete und finanzierte den Bau ihrer ikonischen Villa. Grete lebte einige Zeit in Berlin und lernte dort ihren zweiten Ehemann FritzTugendhat kennen. Sie verkehrte in Künstlerkreisen und war mit dem Kunsthistoriker Eduard Fuchs bekannt. Der ludsie insein Haus ein, das der berühmte Architekt Ludwig Mies van der Rohe gebaut hatte. Nachdem die Tugendhats kurzzeitig Ernst Wiesner als Architekten für ihr eigenes Haus erwogen hatten, fiel ihre Entscheidung letztendlich auf Mies van der Rohe. Dieser hatte, wenige Monate bevor er mit der Planung der Villa Tugendhat begann, den deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona entworfen und damit ein neues Kapitel in der modernen Architektur aufgeschlagen: »Eines Abends arbeitete ich noch spät am Pavillon und machte eine Skizze von einer frei stehenden Wand und bekam einen Schock. Ich wusste, dass ich ein neues Prinzip erfunden hatte.« Mit der Villa Tugendhat konnte er dies gleich perfektionieren. Als sich die Tugendhats zu Silvester 1928 gerade für eine Feier fertig machten, kam die Nachricht von Mies, dass er die Pläne fertig habe. Die Tugendhats verzichtenen auf das Neujahrsfest und eilten zum Architekten. Dort staunten sie nicht schlecht: Eine Stahlträgerkonstruktion für ein Familienhaus? 

So etwas hatte es noch nicht gegeben. Später erzählte Grete Tugendhat: »Ich hatte mir immer ein modernes, weiträumiges Haus mit klaren einfachen Formen gewünscht und mein Mann hatte geradezu einen Horror vor den mit unzähligen Nippsachen und Deckchen vollgestopften Zimmern seiner Kindheit.«

Nach 18 Monaten stand das Haus. Nichts ist hier wie üblich. Von der Straße aus wirkt es uneinsichtig. Nach hinten in den Garten
aber öffnen sich die Räume mit einer durchgehenden Glasfront so, dass die Grenzen zwischen Innen und Außen gänzlich verschwinden und das Panorama der Stadt Brünn zu sehen ist. Auch in punkto Technik lieferte der Architekt eine Meisterleistung. Die Glaswände sind so konstruiert, dass sie bei gutem Wetter versenkt werden können, außerdem gab es eine Klimaanlage. Mit Markéta Roder-Müller gemeinsam entwarf Mies van der Rohe den weitläufigen Garten. Bei der Ausstattung der Innenräume und der Auswahl der Dekorationsmaterialien setzte die Architektin Lilly Reich wesentliche Akzente. Die Stahlkonstruktion, die verchromten Oberflächen der Tragsäulen, die Speiseraum-Nische aus Makassar-Ebenholz und die berühmte Onyx-Wand, auf der das Licht zauberhafte Stimmungen erzeugt, sind nur ein paar Ingredienzien, welche die Villa Tugendhat zu einer der berühmtesten Architekturikonen der Welt machen. Die Tugendhats konnten ihr geliebtes Haus nicht einmal ein Jahrzehnt lang bewohnen. Am Tag des Einmarsches der Nationalsozialisten in Österreich verließen sie Brünn. Die Familie ging zunächst in die Schweiz und später nach Venezuela. Die Gestapo beschlagnahmte ihre Villa in Brünn. Durch die Druckwellen der Luftangriffe wurden die einzigartig großen Fensterflächen zerstört. Nach dem Krieg nutzten die russischen Soldaten die Villa als Stall, ehe sie in der kommunistischen Tschechoslowakei ein Reha-Zentrum für Kinder mit Wirbelsäulenproblemen wurde. In den 1960er Jahren engagierte sich der Brünner Architekt František Kalivoda für die Rettung der Architekturikone.
Grete Tugendhat folgte seiner Einladung nach Brünn und sah zum ersten Mal seit sie geflohen war wieder ihr Haus – und war von den baulichen Veränderungen betrübt. Erst in den 1980er Jahren begann eine aufwendige Restaurierung. Das große Meisterwerk der Architektur ist nun wieder nach den Plänen von Mies van der Rohe rekonstruiert und lockt Architekturbegeisterte aus der ganzen Welt an.

 

Villa Stiassni

Architekt Ernst Wiesner kam zwar beim Bau des Hauses für die Familie Tugendhat nicht zum Zug, realisierte aber mit der Villa Stiassni eine weitere Brünner Architekturikone. Ehe er zu den bedeutendsten Architekten der Zwischenkriegszeit in Brünn aufstieg, studierte er in Wien an der Technischen Hochschule und an der Akademie der bildenden Künste. Sein Wunsch, in der Klasse des Wiener Starachitekten Otto Wagner aufgenommen zu werden, den er wegen seiner modernen Ansätze schätzte, wurde dem jüdischen Studenten wohl aus antisemitischen Gründen verwehrt. In den 1920er Jahren schuf er zahlreiche Bauten wie das Brünner Krematorium und das Café Esplanade. 

1927 realisierte er den repräsentativen Familiensitz für das jüdische Textilunternehmerehepaar Hermine und Ernst Stiassni in Pisárky, einem weiteren Brünner Villenviertel. Wiesner hatte schon mit Hermine Stiassni zusammengearbeitet und den Morava-Palast im Stadtzentrum geplant. Die Villa Stiassni ist von riesigen Parkflächen umgeben, auf denen das Auftraggeber-Ehepaar leidenschaftlich verschiedenen Sportarten nachging. Wiesner intendierte einen funktionalistischen Bau, musste jedoch auch auf die Wünsche der Stiassnis, die klassizistische Elemente bevorzugten, eingehen. Viele der Räume sind deshalb mit dunklen und schweren Interieurs ausgekleidet. Von außen mutet die Villa mit ihrer hellen Fassade und den großen Fenstern mit dunklen Läden wie ein Anwesen in der Toskana an. Die Ausblicke und Einblicke sind atemberaubend schön. Auch den Stiassnis war es nicht vergönnt, ihr Baukunstwerk lange zu bewohnen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten mussten auch sie ihr Zuhause zurücklassen. Nach dem Krieg entdeckte Präsident Edvard Beneš das repräsentative Gebäude und ließ es zu einem luxuriösen Hotel für Staatsgäste umbauen. Darin nächtigte etwa der kubanische Langzeitherrscher Fidel Castro. Der Legende nach gefiel ihm die Ausstattung seines Badezimmers nicht, weshalb er grünen Marmor schicken ließ, der daraufhin eingebaut wurde.

 

  • Villa Löw-Beer, Drobného 297/22, 602 00 Brno
  • Villa Tugendhat, Cˇernopolní 45, 613 00 Brno
  • Villa Stiassni, Hroznová 14, 603 00 Brno 55
€ 18,00
Franz. Broschur
14,5 x 20,5 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13656-6
Erscheinungstermin: 20/02/2020
Sofort lieferbar

Geheimtipp in der Mitte Europas

Weite Hügellandschaften und wildromantische Flussschlingen, geheimnisvolle Schlösser und lebendige Städte, imposante Spuren der Vergangenheit und wache Geister: Der Süden der Tschechischen Republik ist ein Geheimtipp in der Mitte Europas. In Mikulov wirkte der legendäre Rabbi Löw, in Brünn entwickelte Gregor Mendel seine Vererbungslehre, in Dačice wurde der Zuckerwürfel erfunden, in Horní Planá verbrachte Adalbert Stifter seine Kindheit und in Český Krumlov genoss Egon Schiele seine Sommer.
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Johanna Uhrmann ist Grafikdesignerin, Fotografin und Kunsthistorikerin. Sie gestaltet Bücher und Kunstkataloge.
Erwin Uhrmann ist Schriftsteller und Herausgeber einer Reihe für zeitgenössische Lyrik. Gemeinsam verfassen sie Reisebücher, erkunden nahe und entlegene Orte und gehen ihrer Liebe für Architektur nach.

Blick ins Buch

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Von der Moldau zur Thaya

€ 18,00
Franz. Broschur
14,5 x 20,5 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13656-6
Erscheinungstermin: 20/02/2020
Sofort lieferbar
9783222136566 - Von der Moldau zur Thaya
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