Leseprobe Elisabeth Petznek

Upper Class statt Arbeiterklasse? Erzsi „von der roten Nelke“

„Wo stünden die Frauen heute, wenn wir nicht die neuen republikanischen Errungenschaften hätten?“

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Am 21. Oktober 1916, genau einen Monat bevor Kaiser Franz Joseph starb, betrat sein hochfeudaler Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh das Hotel Meissl & Schadn am Neuen Markt in Wiens Zentrum. Der kränkliche, unverheiratete Politiker pflegte dort sein tägliches Mittagessen einzunehmen. In der Nähe saß ein junger Mann, er war ebenso kurzsichtig wie sein Opfer, trug dicke Brillengläser und blickte mehr oder weniger auffällig immer wieder in die Richtung des adeligen Staatsmannes.
Schließlich stand er auf, fragte den Kellner, ob der speisende Herr dort drüben der Ministerpräsident Stürgkh sei, was der Ober bejahte. Im nächsten Moment dröhnten vier Schüsse durch den Raum, der getroffene Graf stürzte tot vom Sessel. „Nieder mit dem Absolutismus! Wir wollen Frieden!“, schrie der bebrillte Mann. Er rannte nicht davon, sondern stellte sich beflissen der herbeigerufenen Polizei vor: „Friedrich Adler.“
Er habe „demonstrieren“ wollen „für einen Frieden ohne Kriegsentschädigungen und ohne Annexionen“. Man führte ihn ab.

Der Attentäter war der Sohn des bekannten Arbeiterführers Viktor Adler, des Gründers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Erzsi, eifrige Konsumentin von Kriminalromanen und aufgrund ihrer familiären Vergangenheit seit jeher interessiert an politischer Gewalt, verschlang alles, was in den Zeitungen über das Stürgkh-Attentat geschrieben stand.
Sie wollte die Motive ergründen, die zu den Schüssen geführt hatten.
Es war nun das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie von außen auf den Namen Viktor Adler aufmerksam gemacht wurde. Ende des 19. Jahrhunderts hatte ihre nicht standesgemäße Freundin aus Triest ihr von dem Armenarzt und seinem Einsatz für die Ziegelarbeiter am Wienerberg berichtet.

Erzsi war deswegen sogar zum Kaiser gegangen und hatte sich eine ordentliche Abfuhr geholt – samt Androhung, überwacht zu werden, wie einst ihr Vater. Doch nun war sie erwachsen, das Lebensende des Kaisers in Sicht. Die Ermordung des Ministerpräsidenten rang den Monarchen dermaßen nieder, dass er von seinem Husten nicht mehr genesen sollte.

Friedrich Adler und das Attentat blieben nicht zuletzt deswegen in Erzsis Erinnerung stark präsent, weil Stürgkhs Tod für sie den Anfang des Sterbens ihres Großvaters markierte.

Adlerhorst
Viktor Adler machte in der von ihm begründeten „Arbeiter-Zeitung“ aus seiner intensiven Ablehnung des von seinem Sohn verübten Attentats keinen Hehl. Gerade die Sozialdemokratie, die für Gewaltlosigkeit stand, erst recht im dritten Jahr des imperialistischen Krieges, musste sich plötzlich mit einem politischen Attentäter aus den eigenen Reihen herumschlagen. Das war überhaupt nicht so geplant, ein Schussattentat sei „der ganzen sozialistischen Ideenwelt fremd und unbegreiflich“, hieß es. „Terror (individueller) ist nach Marx ein grober Fehler“, belehrte auch Wolf Biermann einige Jahrzehnte später in der „Stasi-Ballade“. Die meisten einflussreichen Genossen in der SDAP verurteilten den Politmord des isoliert dastehenden Adler, der gegen die Parteiführung und die „Arbeiter-Zeitung“ ungewöhnlich heftig vorging. Der radikale Fritz Adler hatte sträflich gegen die gemäßigte Parteilinie verstoßen, bei der sein bereits schwer herzkranker Vater den Ton angab.
Viktor Adler glaubte – zumindest offiziell – noch an einen österreichischen Sieg und wollte ein eventuelles Nachgeben der militärischen Gegner nicht durch übertriebene, innenpolitische Opposition gefährden. Er kannte seinen hitzigen Sohn und wusste genau, dass sich das unüberlegte Attentat nicht gegen die Person Stürgkh allein gerichtet hatte, sondern gegen alles, wofür der Graf stand. Und manche dieser Inhalte vertrat auch ein Teil der Sozialdemokratie, da im Krieg der pragmatische Flügel das Sagen hatte. Der Parlamentarismus war seit Kriegsbeginn außer Kraft gesetzt.
Es gab aber auch Proponenten in der SDAP, die für eine vollkommene politische, wirtschaftliche und geistige Neugestaltung eintraten und deren Ziel der „neue proletarische Mensch“ war. Um an seiner Verwirklichung zu arbeiten, ging man im „Roten Wien“ der 1920er-Jahre mit Elan ans Werk.

Noch waren die Zeiten erbärmlich. Hunger und Verzweiflung trugen einen großen Teil dazu bei, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Ein abgehobener Politiker weniger – das mochte in den Augen Friedrich Adlers im Moment von Nutzen sein, änderte aber nichts am Nationalismus, der Ignoranz und teilweise der Menschenverachtung, die bei den tonangebenden Militärs und bei nicht wenigen Mitgliedern von Erzsis Familie vorherrschten. Es war deren Krieg, es waren deren
Tote und deren Hungernde. Das Katastrophenjahr 1916 erschütterte die Monarchie nachhaltig, die Menschen verlangten Essen, Frieden und politischen Einfluss. In den Großstädten brodelte die Unzufriedenheit der Massen, Konzessionen wurden aber keine gemacht. Bereits Anfang 1915 waren zwei fleischlose Tage pro Woche verordnet worden. Ein Jahr später befand sich die Lebensmittelversorgung quasi im freien Fall, alles wurde rationiert und gestreckt. Es gab „Streckbutter“, mit Magermilch gestreckte Margarine, oder „Kriegsbrot“, dem aufgrund des Getreidemangels alles (Un-)Mögliche beigemengt wurde. Wenn man
Glück hatte, bekam man etwas Speiseöl. Schmalz und Speck konnten sich nur mehr die allerreichsten Kriegsgewinnler auf dem Schwarzmarkt besorgen. Die Vorboten des extremen Lebensmittelengpasses bemerkte Erzsis Wirtschafterin in Schönau im Herbst 1915. Fleisch war nicht mehr zu bekommen. Bald fehlten auch Eier, Kartoffeln, Getreide sowieso.

Erzsi, die sich nun an ihre Grundkenntnisse in Landbau und Hauswirtschaft erinnerte, ließ Blumenpflanzungen und Biotope stehen und begann mit der Reaktivierung des Landwirtschaftsbetriebes rund um ihr Schloss. Sie ließ Ställe für ihre eigenen Ziegen- und Schafherden errichten, zog Milchkühe, Schweine und Hühner auf, um Familie und Personal vor der Hungersnot zu bewahren. Neben den älteren Kindern arbeiteten zahlreiche russische Kriegsgefangene als Hilfskräfte in Schönau mit. Sie bauten etwas Gemüse und hauptsächlich Kartoffeln an. Als Erzsi mit dem kranken Franzi in Kitzbühel weilte, rief ein aufgeregter Schlossverwalter an und bat sie, sofort zurück nach Schönau zu reisen. Offiziere seien im Schloss erschienen, die alles Vieh für die Armee requirieren wollten. Erzsi war auf sich allein gestellt, es war niemand mehr da, den sie zu Hilfe rufen konnte. Ihre Pläne für eine richtig große Landwirtschaft musste sie, kaum dass sie diese gehegt hatte, gleich wieder aufgeben. Erzsi floh in ihre Räume und schloss die Fensterbalken, um das Blöken und Brüllen der zwangsrequirierten Tiere nicht hören zu müssen. Währenddessen wurde auch der Inhalt des Kartoffelkellers fast zur Gänze konfisziert. Schlagartig begriff Erzsi den Zusammenhang zwischen Brot und Kanonen.
Angewandte sozialistische Theorie, wie sie nur der Krieg lehren kann.

In ihrem Brief an den Polizisten Johann Schober hatte Erzsi geschrieben, er möge ihr mit Nahrungsmitteln aushelfen, sie könne ihre Kinder nicht mehr versorgen: „Bitte, erbarmen Sie sich unser, wir verhungern buchstäblich. Keine Eier, keine Butter, keine Erdäpfel!“ Im Park wurden Bäume gefällt, damit man im Schloss nicht auch noch erfror.
Der Krieg und das Stürgkh-Attentat: Erzsis Politisierung hatte im Jahr 1916 begonnen. Ein von seiner Umgebung Enttäuschter, der mit der Waffe in der Hand auf einen Gegner losgeht – so jemand konnte mit ihren Sympathien rechnen. Sie sah sich auf Friedrich Adlers Seite.
Er leide an einem „überreizten Gehirn“, kalmierte die Parteileitung, als der junge Adler zum Tod verurteilt wurde. (Kaiser Karl amnestierte ihn noch im November 1918.) Das kam Erzsi bekannt vor, denn Ähnliches hatten die Pathologen auch über ihren Vater gesagt; obwohl sie 1916 bestimmt schon erfahren hatte, dass selbst der allerbeste Rechtsmediziner mit dem zerschossenen Gehirn ihres Vaters nichts mehr hätte anfangen können.

  • Michaela Lindinger
  • Elisabeth Petznek
  • Rote Erzherzogin –
    Spiritistin – Skandalprinzessin
€ 30,00
Hardcover
15,5 x 22,5 cm; 256 Seiten
ISBN 978-3-222-15070-8
Erscheinungstermin: 23/02/2021
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€ 23,99
E-Book - EPUB
0 x 0 cm; 256 Seiten
ISBN 978-3-99040-626-7
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E-Book - Kindle
0 x 0 cm; 256 Seiten
ISBN 978-3-99040-627-4
Erscheinungstermin: 23/02/2021
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Die radikalste Aussteigerin des Hauses Habsburg

Einst hätte sie Kaiserin werden können. Später wurde sie lieber Sozialdemokratin: Österreichs letzte, fortschrittlichste und ganz sicher extravaganteste Prinzessin: Elisabeth Marie Petznek. Ihren Traummann musste die einzige Tochter des Kronprinzen Rudolf bei ihrem Großvater, Kaiser Franz Joseph, auf Biegen und Brechen durchboxen. Konkurrentinnen rückte sie auch schon mal mit der Schusswaffe zu Leibe. In Gesellschaft diverser Liebhaber tanzte sie durch die Nachtbars von Pula bis Triest.

Die radikalste Aussteigerin, die das Haus Habsburg je hervorgebracht hat, kämpfte für Ehescheidung und sexuelle Selbstbestimmung. Sie war eine enge Freundin des Bundespräsidenten Theodor Körner und des Aussenministers Bruno Kreisky. Zusammen mit der Widerstandskämpferin Rosa Jochmann lauschte sie am 11. März 1938 in ihrem Wohnzimmer der Radio- Abschiedsrede des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg.

Ihre vier Kinder wurden enterbt, stattdessen ging ihr gesamter Besitz an die Republik Österreich. Auf ihremeinfachen Grab in Hütteldorf steht kein Name. Erzherzogin Erzsi starb 1963 als Genossin Elisabeth Petznek.

• Die erste umfassende Biografie zur einzigen Tochter von Kronprinz Rudolf
• Von der Thronanwärterin zur Revolutionärin: Wie aus der letzten Prinzessin Österreichs eine Sozialdemokratin wurde
• Die Befürworterin moderner feministischer Prinzipien kämpfte für Scheidung und sexuelle Freiheit

Michaela Lindinger studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Ägyptologie, Ur- und Frühgeschichte. Die Autorin und Kuratorin arbeitet für das „Wien Museum“. Neben der Wiener Stadtgeschichte und Frauengeschichte begeistert sie sich für die Themen Tod und Mode, die immer wieder in ihre Bücher einfließen.

Von Michaela Lindinger ist Band 1 der „Reihenweise kluge Frauen"-Reihe erschienen: „Hedy Lamarr: Filmgöttin - Antifaschistin - Erfinderin“

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Elisabeth Petznek

€ 30,00
Hardcover
15,5 x 22,5 cm; 256 Seiten
ISBN 978-3-222-15070-8
Erscheinungstermin: 23/02/2021
Sofort lieferbar
€ 23,99
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0 x 0 cm; 256 Seiten
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ISBN 978-3-99040-627-4
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9783222150708 - Elisabeth Petznek
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