Leseprobe "Willkommen in Wien"

In jedem Wiener steckt ein Massenmörder

© (c) Anna Frohmann Bild vergrößern Foto: (c) Anna Frohmann

Im Jahr 2006 wurde der Friseur Mohr am Wiener Graben vom Friseur Sturmayr übernommen. Das ist nicht weiter verwunderlich,
denn allenthalben verschwinden angestammte, in aller Tradition verankerte Geschäfte und machen internationalen Marken Platz. Zwar gibt es gerade am Graben noch viel Ortsverbundenheit: Man muss nur im ehedem Mohr’schen Friseurladen aus einem der
Fenster im Mezzanin des Eckhauses Seilergasse/Graben blicken und sieht solche Lokalmatadore wie die Confiserie Altmann & Kühne oder den Wäscheausstatter Die Schwäbische Jungfrau. Sturmayr aber gehört, wenn schon, nach Salzburg und er ist jedenfalls österreichweit mit seinem Dutzend Filialen eine Art Multi-Unternehmer.

Es ist ein hübsches Zusammentreffen – um nicht zu sagen Ausweis künstlerischer Sensibilität –, dass in der ausladenden, aber dann auch wieder erstaunlich enggefassten Welt Thomas Bernhards ausgerechnet die Friseure Mohr und Sturmayr eine Rolle spielen. Ersterer in Heldenplatz, der Skandalposse schlechthin, den Österreichern und ihrer Hauptstadt zum Bedenkjahr 1988 vor den Latz geknallt.
Die Witwe des Professors Josef Schuster, der, von jüdischer Herkunft, 1938 nach England geflohen, in der Nachkriegszeit zurückgekommen und angesichts der neuen nazistischen Umtriebe in den Freitod gegangen war, hatte mit dem Coiffeur eine der wenigen Adressen in Wien, die ihr am Herzen lagen (eine andere ist der Konditor Sluka in den Arkaden des Rathausplatzes): „Er hat noch gesagt, er wird die Frau Professor vom Friseur Mohr abholen die ist immer nur zum Friseur Mohr gegangen jeden Donnerstag vor der Josefstadt.“ (Heldenplatz, S. 58) Der Friseur Sturmayr wiederum ist Bestandteil der in fünf Bänden vorliegenden Lebenserinnerungen Bernhards, namentlich im letzten Teil Ein Kind.

Als Schulbub ist Thomas, Jahrgang 1931, in einem „kleinen, feuchten, einstöckigen Haus“ zu Gast gewesen: „Jahrelang bin ich in der Mittagspause durch das Gartentor des Friseurs Sturmayr, um meinen Hunger zu stillen.“ (Ein Kind, S. 61) Der Betrieb muss seinerzeit, in den 1930ern, noch nicht ganz so frequentiert gewesen sein; immerhin hat Sturmayr bis heute in Eugendorf, das Bernhards Kindheitsort Seekirchen am Wallersee unmittelbar benachbart ist, einen Laden. Die ausladende, aber dann auch wieder erstaunlich enggefasste Welt Thomas Bernhards hat mit diesen Orten schon ihre Pole (mit einem fernen Sehnsuchtsrevier in England). Im Salzkammergut mit ihrem hausgemachten Zentrum Salzburg war ihm dabei ebenso wenig lustig zumute wie in der noch viel wasserköpfigeren Hauptstadt: Der Aufenthalt in der einen territorialen Lage war Grund genug für jedes Ressentiment der anderen gegenüber.

„Er verachtet, wie alle Provinzler, die Wiener“, sagt Bernhard im zweiten Band seiner Kindheits- und Jugendgeschichte über einen Salzburger (Der Keller, S. 104). Umgekehrt natürlich nicht anders: So sind die Tiraden Legion. War das Frühwerk, samt anhängiger Erinnerungsarbeit, eher auf das profunde Österreich, „jenes tödliche Element auf diesem tödlichen Boden“ (Die Ursache, S. 45) ausgerichtet, so gerät später dann bevorzugt die „menschenfressende Großstadt Wien“ (Holzfällen, S. 61) ins Visier; denn schließlich: „In jedem Wiener steckt ein Massenmörder.“ (Heldenplatz, S. 118)

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Erscheinungstermin: 23/02/2021
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E-Book - EPUB
0 x 0 cm; 192 Seiten
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Rainer Metzger ist ein deutscher Kunsthistoriker und Kurator. Er publizierte zu kunsthistorischen Themen, unter anderem über Vincent van Gogh, und schrieb für den „Standard“. Neben seiner publizistischen Arbeit kuratierte Rainer Metzger zahlreiche Ausstellungen, unter anderem für die Kunsthalle Krems und das MuseumsQuartier Wien. Seit 2004 gibt er sein Wissen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe weiter.

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Willkommen in Wien

€ 20,00
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15,5 x 22,5 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-15067-8
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9783222150678 - Willkommen in Wien
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